Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und Diakonie Hessen haben die lang erwartete umfangreiche Studie zu abgeschobenen Afghanen von Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann herausgegeben.
Abgeschobenen Afghanen drohen der Studie zufolge Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung. Unter anderem werde ihnen wegen der Flucht nach Europa Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen. Auch die Familien von Europa-Rückkehrern sind gefährdet. Vor diesem Hintergrund fehlt den Rückkehrern vielfach das überlebenswichtige familiäre Netz.
Interview mit der Afghanistan-Expertin und Autorin der Studie Friederike Stahlmann
Was fordert die Diakonie Deutschland auf Grundlage der Studie?
- Der geplante Abschiebeflug am 8.06.2021 muss unterbleiben.
- Die Bundesregierung und die Innenministerkonferenz (16.-18.Juni 2021) müssen die Lage neu bewerten und dürfen dies nicht Anwälten und Gerichten überlassen: Aus unserer Sicht lässt die Studie keine andere Konsequenz zu als einen generellen, bundesweiten Abschiebungsstopp nach Afghanistan.
- Die bereits inhaftierten Betroffenen müssen aus der Abschiebehaft entlassen werden. Evtl. Straftäter sollen ordnungsgemäß hier in Deutschland ihre Haft verbüßen.
- Die Studie belegt: Wir schicken die Menschen durch Abschiebungen nach Afghanistan sehenden Auges in den Tod oder in die Gefahr schwerster Verletzungen. Es bestehen spezifische Gefahren für Europa-Rückkehrer. Menschen dorthin abzuschieben, ist grob fahrlässig und bringt auch die dortigen sozialen und familiären Netzwerke der Betroffenen in Gefahr.
- Die Abschiebungen sind nicht nur rechtswidrig, sondern auch wirkungslos: Von 113 untersuchten Personen haben zwei Suizid begangen, 69 Prozent haben das Land bereits verlassen, 30 Prozent planen die erneute Flucht, nur eine Person will in Afghanistan bleiben.
- Auch Straftäter, sog. „Gefährder“ und „Identitätsverweigerer“ haben ein Recht auf Leben, einige Bundesländer schieben zudem Menschen ab, die sich nichts zu Schulden haben kommen lassen.
- Wir fordern eine rechtlich gesicherte Bleibeperspektive für die rund 30.000 afghanischen Ausreisepflichtigen. Sie sind zum Teil schon lange hier und trotz einer Duldung gut integriert. Auf absehbare Zeit kann nicht nach Afghanistan abgeschoben werden.
Gemeinsame Pressemitteilung von Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und Diakonie Hessen:
Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und Diakonie Hessen geben neue Studie zu abgeschobenen Afghanen heraus und fordern sofortigen Abschiebestopp
„Wir gefährden sehenden Auges das Leben dieser Menschen“
Berlin, den 4. Juni 2021 – Die Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und die Diakonie Hessen fordern einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan. Einer am Freitag veröffentlichten Studie der Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan- Expertin Friederike Stahlmann zufolge drohen abgeschobenen Afghanen Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung. Unter anderem werde ihnen wegen der Flucht nach Europa Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen. Auch die Familien von Europa-Rückkehrern sind der Studie zufolge gefährdet. Vor diesem Hintergrund fehlt den Rückkehrern vielfach das überlebenswichtige familiäre Netz. Bis auf einen Betroffenen haben alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei von ihnen haben Suizid begangen.
Die Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans“ ist im Auftrag der Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und der Diakonie Hessen entstanden. Die Untersuchung basiert auf einer mehrjährigen Forschung und dokumentiert die Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie: „Wir gefährden sehenden Auges das Leben dieser Menschen durch Abschiebungen nach Afghanistan und setzen sie der Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen und Verelendung aus. Dies ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Bundesländern einen generellen, bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan zu beschließen. Der geplante Abschiebeflug am 8. Juni muss unterbleiben, die bereits inhaftierten Betroffenen müssen aus der Abschiebehaft freigelassen werden. Menschen dorthin abzuschieben, ist grob fahrlässig und bringt auch die dortigen sozialen und familiären Netzwerke der Betroffenen in Gefahr.“
Die Präsidentin von Brot für die Welt, Dagmar Pruin, mahnt an: „Die Lage im kriegs- und krisengebeutelten Afghanistan ist seit Jahren dramatisch und hat sich pandemiebedingt noch weiter verschlechtert. Die eskalierende Dynamik der massiven Verelendung der Bevölkerung und die Sicherheitslage müssen zu einer Neubewertung auch des Auswärtigen Amts führen. Es ist nun erstmals in umfangreicher Recherche belegt: Die meisten der Abgeschobenen sind erneut geflohen und befinden sich derzeit in verzweifelter Lage in Ländern wie Iran, Pakistan, Türkei und Indien – keineswegs sichere Aufenthaltsorte für afghanische Staatsangehörige. Der derzeitige NATO-Truppenabzug droht die Sicherheitslage weiter zu verschärfen.“
Carsten Tag, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Hessen: „Die Ergebnisse unserer Studie müssen nun auch Konsequenzen für die rund 30.000 Ausreisepflichtigen aus Afghanistan haben. Sie sind zum Teil trotz einer Duldung hierzulande gut integriert und gehen einer Beschäftigung oder einer Ausbildung nach. Das BAMF muss jetzt seine Entscheidungspraxis zu Afghanistan überdenken und es nicht den Gerichten überlassen, Menschen vor der Abschiebung zu bewahren. Vielmehr sollte ihnen von Anfang an die Bleibeperspektive auch rechtlich zugesichert sein.
Allein im Jahr 2020 wurde in über 21.000 Fällen ein Widerruf der Flüchtlingseigenschaft für afghanische Geflüchtete geprüft. Das ist angesichts der derzeitigen Lage in Afghanistan absurd und verhindert das Ankommen in der Gesellschaft.“
Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat in einer am 3. Februar 2021 veröffentlichten Grundsatzentscheidung festgestellt, dass alleinstehende gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter nicht abgeschoben werden dürfen, wenn weder ein soziales oder familiäres Netzwerk noch sonstige begünstigende Umstände vorliegen. Die neue Studie belegt nun, dass die Wahrscheinlichkeit für ein aufnahmewilliges soziales oder familiäres Netzwerk sehr gering ist, denn die Unterstützung Abgeschobener stellt aufgrund der weitverbreiteten Kollektivhaftung auch für ihre Familien eine erhebliche Gefahr dar. „Betroffene Familien versuchen entweder, sich zu schützen, indem sie den Kontakt verweigern, oder Abgeschobene müssen versteckt bleiben. Dieser soziale Ausschluss aufgrund der spezifischen Sicherheitsrisiken macht eine Reintegration oder eine Existenzgründung für Abgeschobene auch unabhängig von der derzeitigen Eskalation der Not nahezu unmöglich. Der Schutz des Lebens ist nicht garantiert, Abschiebungen nach Afghanistan müssen gestoppt werden“, so die Herausgeber.