„Unsere Grenzen bleiben offen!“

Dass es auch anders gehen kann, berichtet der Minister für Flüchtlingsangelegenheiten in Uganda in einem Interview mit der TAZ. (21.6.17)

Ugandischer Politiker über Flüchtlinge

„Unsere Grenzen bleiben offen!“

In Uganda werde niemand abgewiesen, sagt Musa Ecweru, Minister für Flüchtlingsangelegenheiten. Denn man habe aus der Geschichte gelernt.

taz: Herr Ecweru, in Uganda stehen die größten Flüchtlingslager der Welt. Warum?

Musa Ecweru: Wir haben eine der liberalsten Flüchtlingspolitiken der Welt. Wir betrachten Flüchtlinge als Menschen, nicht als Menschen zweiter Klasse. Wir Ugander haben sehr viel Empathie für Menschen in Not. Dreiviertel der Mitglieder unserer derzeitigen Regierung haben selbst Erfahrungen im Exil gemacht. Wir kamen nach dem Krieg vor 30 Jahren alle nach Hause und haben unsere Erfahrungen geteilt.

Was folgte daraus?

Bei uns hat sich das Gefühl entwickelt, dass wir Menschen, die heute auf der Flucht sind, gut behandeln wollen. Sie sind unsere Brüder. Als wir vor 30 Jahren unsere erste Regierung aufgebaut haben, schlitterte die Region in eine wirklich turbulente Zeit. Staaten wie Ruanda, Kongo oder Somalia und Sudan kollabierten Uganda war urplötzlich eine Insel des Friedens. Das ist bis heute so.

Wer sind die Menschen, die in Uganda Schutz suchen?

Es sind mittlerweile rund 1,2 Millionen – so viele waren es noch nie. Die ersten Flüchtlinge, die wir aufnahmen, waren polnische Juden, die während des Zweiten Weltkrieges aus Europa flohen. Derzeit sind die größte Flüchtlingsgruppen Südsudanesen und Kongolesen. Doch wir beherbergen auch Burundier, Somalier, Eritreer, Menschen aus dem Jemen und verfolgte Minderheiten aus Pakistan, sogar aus Liberia, also Westafrika. Vor wenigen Jahren stürmte eine ganze Fußballmannschaft aus Eritrea mein Büro, nachdem sie gegen Uganda gespielt hatten – ich habe ihnen sofort Asyl gewährt. Ich bin gerade im Nordosten des Landes gewesen, dort sind aufgrund der Dürre kenianische Hirten mit über 70.000 Rindern einmarschiert, weil sie keine Wasserstellen mehr finden. Diese Kühe kommen ohne Visum, wir haben auch ihnen Asyl gewährt (lacht).

Der 52-Jährige ist seit 2006 Ugandas Staatsminister für Flüchtlingsangelegenheiten und Katastrophenschutz. Er gehört zur Partei National Resistance Movement, die das Land seit 1986 regiert.

Ist es nicht schwierig, diesen Ansturm zu bewältigen?

Trotz all unserer Willkommenskultur, stehen wir vor großen Herausforderungen. Wir haben an der Grenze zu Südsudan einfach nicht mehr genug Platz. Da wir keine Lager bauen, sondern Siedlungen, wo jede Familie auch einen Acker bekommt, um Lebensmittel anzubauen, ist der Bedarf an Land enorm.

Wie steht es um die Sicherheit?

Das ist ein weiteres Problem, wir müssen sicherstellen, dass die Flüchtlinge keine Waffen und Munition mitbringen. Und weil die Gesundheitsversorgung in den Heimatländern zusammengebrochen ist, sind Kinder nicht geimpft oder haben Folgen von Mangelernährung. Im Kongo ist Ebola ausgebrochen, zwar weit von unserer Grenze, aber bei Fluchtbewegungen weiß man nie. Wir dürfen uns hier keine Schlupflöcher erlauben, sonst wird es gefährlich.

Wie klappt es mit der Versorgung der Flüchtlinge?

Negative Folgen hat der enorme Energiebedarf der Flüchtlingslager. Die Frauen kochen mit Holzkohle. Ein einziges Lager kann in wenigen Tagen einen ganzen Wald verheizen. Für unsere Sozialdienste und die dort lebenden Ugander ist der Druck jetzt enorm: Die Klassenzimmer sind überfüllt, die Gesundheitszentren ebenfalls. Das hat Nachteile für die lokale Bevölkerung. Wir müssen aufpassen, dass dort nicht bald mehr Flüchtlinge als Einheimische wohnen

Haben Sie in Betracht gezogen, die Grenze zu schließen?

Niemals, unsere Grenzen bleiben offen! Dass Europa jetzt seine Grenzen dichtmacht, halten wir für falsch, sehr falsch! Flüchtlinge sind Opfer eines gescheiterten internationalen Systems der Friedenssicherung. Die internationale Gemeinschaft sollte dafür sorgen, dass solche Konflikte wie im Südsudan gar nicht erst ausbrechen, oder dass solche Regime wie in Eritrea erst gar nicht entstehen. Die Grenzen zu schließen, würde bedeuten, den Opfern auch noch ins Gesicht zu schlagen. Das ist moralisch einfach grundsätzlich falsch.

Sagen Sie das auch Politikern in Europa so deutlich?

Ich war vor wenigen Wochen in Dänemark und habe das dort den Abgeordneten genauso gesagt, denn die EU und die USA haben als Großmächte eine wichtige friedenssichernde Rolle in der Welt. Sie sind also mit verantwortlich. Die Dänen saßen alle stocksteif da. Sie waren schockiert, dass ein Afrikaner ihnen so etwas ins Gesicht sagt.

In Europa sagen manche, dass die vielen Flüchtlinge Unsicherheit bringen …

Ich habe in Dänemark auch klipp und klar gesagt: Der Begriff „Flüchtling“ ist kein Synonym für Kriminelle oder Terroristen. Klar, gibt es immer ein, zwei, drei Fälle, in welchen sich Kriminelle zwischen Hunderttausenden Flüchtlingen verstecken. Aber das ist noch lange kein Grund für Fremdenhass, so wie er jetzt in Europa aufkeimt.

Haben Sie keine Angst vor Terror?
 
Wir hatten in Uganda 2010 auch Terroranschläge und verdächtigten somalische Attentäter. Doch ich bin jeden Tag vor die Kameras getreten und habe an die Ugander als auch an die Somalier appelliert und erklärt: Wir werden die Täter fassen, egal welcher Nationalität sie angehören, es sind Einzeltäter und wir werden keine Gruppen von Menschen unter Verdacht nehmen. Kein Land sollte fremdenfeindliche Tendenzen erlauben, um Terrorismus zu bekämpfen. Wir Afrikaner erwarten das von Europa, denn Europa ist die Wiege der Menschenrechte.

Andere Länder, die unter Anschlägen leiden, werden jetzt hochgerüstet an Flughäfen und Grenzen. Kenia will sogar eine Mauer nach Somalia bauen. Spielt Uganda auch mit diesen Gedanken?

Nein, wir würden das niemals akzeptieren, denn selbst die beste Sicherheitstechnologie und Überwachungskameras an jeder Ecke wird die Täter nicht aufhalten Das haben wir bereits beim 9/11-Anschlag in New York gesehen. Wir müssen die Ursachen der Radikalisierung dieser Täter angehen. Eine Mauer – das würde uns nie in den Sinn kommen, denn wir sind Panafrikanisten. Wir sind überzeugt: Grenzen haben keine Zukunft. Es ist schockierend, dass auch die Deutschen jetzt wieder Mauern bauen in Afrika. Hat die deutsche Geschichte mit der Berliner Mauer euch keinen Denkzettel verpasst? Es scheint, als hätte all der Komfort und die Sicherheit in Europa eure Erinnerungen ausgelöscht, wie es war, als eure Großeltern noch Flüchtlinge waren.

Was sollte stattdessen getan werden?

Wir müssen alles investieren, die Ursachen der Konflikte zu lösen. Dazu brauchen wir Hilfe von der internationalen Gemeinschaft, die Krise in Südsudan beizulegen, den Kongo zu stabilisieren, damit dort nicht erneut Krieg ausbricht, und dass Burundi nicht noch explodiert. In all diesen Ländern stehen UN-Missionen mit Tausenden von Blauhelmen. Wie kann es sein, dass diese Länder vor den Augen dieser Blauhelme einfach so in Gewalt versinken? Da läuft doch etwas schief, oder?

Sie haben zum Flüchtlings-Solidaritätsgipfel nach Uganda eingeladen. Was ist das Ziel?

Viele kommen mit hohen Delegationen aus der EU und den USA, von der UN und anderen Organisationen. Wir werden sie in die Lager fliegen und die Flüchtlinge sprechen lassen, sie sollen ihre Geschichten erzählen. UN-Generalsekretär António Guterres wird anreisen, er ist ein Botschafter Ugandas und unserer Politik für die ganze Welt. Wir wollen die Welt ermutigen, Lösungen für die Konflikte unserer Nachbarländer zu suchen.

In Südsudan und Kongo gibt es enorm viele Binnenvertriebene. Die Zahl der Flüchtlinge, die die Grenzen überqueren, wird wohl steigen. Wird Uganda an den Punkt gelangen, wo Politiker sagen: Das Maß ist voll – so wie in Europa?

Wir können und werden niemals sagen, es ist jetzt genug. Wir sprechen hier nicht von einer Party, zu welcher man Gäste einlädt und wenn zu viele vor der Tür stehen, dann entschuldigt man sich, dass man nicht alle empfangen kann. Diese Menschen rennen um ihr Leben, und wenn wir ihnen die Tür nicht aufmachen, sterben sie. Wir können nicht sagen: „Sorry, geh und stirb!“, wie es derzeit im Mittelmeer mit den ertrinkenden Migranten passiert. Das ist nicht akzeptabel. Als Unterzeichnerstaat der Genfer Flüchtlingskonvention haben wir noch nie jemanden deportiert oder nicht anerkannt. Für Menschen, die Schutz bedürfen, gibt es nur einen einzigen Weg, Uganda wieder zu verlassen: nämlich freiwillig und in Würde.

Wieviel gibt Uganda für die Flüchtlinge aus?

Das versuchen wir gerade zu ermitteln, denn die Geberländer verlangen das von uns. Doch das ist nicht einfach. Für die Schulen ist der Bildungsetat zuständig, die Impfungen werden aus dem Gesundheitsetat bezahlt. Die schweren Lastwagen, die Hilfsgüter zu den Lagern bringen, haben die Straßen zerstört, sie werden mit Mitteln des Transportministeriums repariert, die Polizisten vom Innenministerium bezahlt. Wir müssen jetzt sehr viel Land mieten, um Lager zu unterhalten, das ist sehr teuer. Zum Gipfel werden wir eine Zahl parat haben, wieviel ein Flüchtling uns pro Jahr kostet. Denn es gibt gerade eine generelle Müdigkeit der Geber, vor allem aus Europa. Die neuen Regierungen in Europa handeln nach dem Motto: „Europe First“, wie jetzt auch die USA mit Trumps „America First“. Ich mache mir wirklich Sorgen, dass wir bald von der Welt alleine gelassen werden. Das macht mir Angst, ehrlich gesagt.

Bundestagswahl: Positionierungen der Diakonie

Anfang August hat der Bundestagswahlkampf begonnen. In den nächsten Wochen wird die politische Auseinandersetzung über die Gestaltung unseres Gemeinwesens intensiv geführt. Wir wollen uns mit unseren diakonischen Themen daran beteiligen. Dazu möchten wir Ihnen Unterstützung anbieten. Hier finden Sie ein Positionspapier mit kurz gefassten Forderungen zum Thema „Gerechte Teilhabe verwirklichen“. Die weiteren Positionspapiere zu gesellschaftspolitischen Querschnittsthemen finden Sie auf der Internetseite des Bundesverbandes.

HfbK Vorstudien-Programm für Geflüchtete

Zum Wintersemester 2017/18 wird erneut das Vorstudien-Programm „Artistic and Cultural Orientation“ für Migrant*innen mit Fluchtgeschichte  an der Hochschule für bildende Künste Hamburg angeboten. Geflüchtete mit Interesse an einem Kunststudium (Bereiche Film, Fotografie, Malerei/Bildhauerei, Design) sind willkommen sich zu bewerben. Die Bewerbungsfrist ist der 1. September 2017; die Bewerbung erfolgt einfach über ein Online-Formular (in deutscher oder englischer Sprache): www.hfbk-hamburg.de/aco/ Der Kurs beginnt ab Oktober 2017.

Bis zu 20 Teilnehmer*innen sind eingeladen, Denktraditionen der westlichen und östlichen Kunst, Kultur und Gesellschaft zu diskutieren und in künstlerischen Workshops Arbeitsformen hiesiger Kunsthochschulen praktisch auszuprobieren. Parallel wird die Ringvorlesung »Cross-Cultural Challenges«, die sich an alle Hochschulmitglieder richtet, den Diskurs über kulturelle Transfers und andere „Schulen des Sehens“ forcieren. Kostenfreie Exkursionen zu Museen und Ausstellungen sowie fachspezifische Deutschkurse ergänzen das Programm. In einem Paten-System unterstützen HFBK-Studierende die Teilnehmer*innen bei der Orientierung an der Hochschule und in der Hamburger Kunstszene, und mit fachspezifischen Beratungen wird gezielt auf die individuellen Bildungsbiografien eingegangen.

Weitere Infos stehen auch auf der Facebook-Seite.

Die Humanität ertrinkt mit

In den letzten Wochen eskaliert die Situation im Mittelmeer immer mehr – und mit ihr die Debatte um zivile Seenotrettung und europäische Solidarität.

„Solidarität und Humanität sind beliebte Begriffe bei Politiker*innen. Doch in der Realität kann davon nicht die Rede sein.“ schreibt ProAsyl.

Politik um Menschenleben

Die Ergebnisse des Treffens der Innenminister aus zwölf europäischen und afrikanischen Staaten sowie EU-Migrationskommissar Avramopoulos am 24. Juli in Tunis können nicht zynischer die Realität der fliehenden Menschen verleugnen: »Gemeinschaftliches Ziel ist die Rettung von Menschenleben dank weniger Wüsten- und Meerüberquerungen«. Anstatt legale Wege nach Europa zu schaffen und eine europäische Seenotrettung einzusetzen, sollen Todesfälle durch Festsetzen von Schutzsuchenden in Nordafrika verhindert werden – im Rahmen von Entwicklungshilfekonzepten die sich den Herausforderungen der Migration stellen. Weitere Forderungen beinhalten die Übergabe der geretteten Flüchtlinge an nordafrikanische Häfen, um ein Anlandung in Europa zu verhindern.

Militäroperationen zur Rettung ?!

Am 17. Juli beschlossen die EU-Außenminister die europäische Grenzschutz-Mission in Libyen (EUBAM) bis Ende 2018 zu verlängern, um die Sicherung der Südgrenze des Landes zu forcieren. Damit Schutzsuchende keine Möglichkeit zur Flucht bekommen, soll die Ausfuhr von Außenbordmotoren und Schlauchbooten nach Libyen eingeschränkt werden.

Ausgeblendet werden bei diesen Urteilen über Menschenleben die Dokumentationen (u.a. von der UN) über Gewaltexzesse gegen Schutzsuchende in Libyen und Warnungen vor den Menschenrechtsverletzungen.

Auch die EU-Militäroperation „Sophia“ im zentralen Meer wurde bis Ende 2018 verlängert. Die Operation geht inzwischen über das eigentliche Ziel der Schlepperbekämpfung hinaus: das zentrale Projekt ist das Training der libyschen Küstenwache. Seit Beginn der Operation ist die Todesrate bei der Flucht übers Mittelmeer gestiegen, da die Zerstörung der Boote durch „Sophia“ dazu geführt hat, dass Schutzsuchende auf noch seeuntauglichere Boote verfrachtet werden.

Tödliche Diffamierungskampagnen – an Land und zu Wasser

Während sich die Militäroperation immer mehr aus dem Seegebiet nahe Libyens zurück zieht, in dem ein Großteil der Rettungen statt findet, retteten die zivilen Seenotrettungsorganisationen über ihre Kapazitäten hinaus Menschenleben – und werden dafür massiv kritisiert und diffamiert.

Die Rufe, zivile Seenotretter würden mit Schleppern kooperieren und Geschäfte machen, kam bisher nur aus dem rechten Milieu. Inzwischen lassen sich jedoch auch der deutsche Innenminister de Maiziere, der österreichische Innen- und der Außenminister und andere auf dieses Niveau herab, haltlose Unterstellungen ohne jegliche Beweise zu äußern.

Sie stellen sich damit auf eine Linie der ultrarechten Gruppe „Identitäre Bewegung“, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Deutsche, französische und italienische Mitglieder der Organisation hatten ein eigenes Boot („C-Star“ gechartert, um die Seenotrettung im Mittelmeer zu überwachen und Flüchtlinge daran zu hindern nach Europa zu fahren. Sie werfen den zivilen Seenotrettungsorganisationen Menschenhandel und Kooperation mit libyschen Schleppern vor.

Ende Juli wurde der Kapitän der „C-Star“ und sein Stellvertreter in der Türkischen Republik Nordzypern in Gewahrsam genommen, da er vermutlich falsche Angaben über Schiff und Besatzung gemacht habe. Fünf der 20 tamilischen Besatzungsmitglieder sollen nach der Festsetzung Asyl beantragt haben – sie hatten keine Einreiseerlaubnis. Gegen den Kapitän bestehe der Verdacht des Menschenschmuggels. Zuvor war das Schiff im Suezkanal festgesetzt worden, da die richtigen Papiere zur Weiterfahrt fehlten. Im weiteren Verlauf verweigerten mehrere Häfen in Griechenland, Sizilien und Tunesien der „C-Star“ die Einfahrt.

Am 11. August trieb die „C-Star“ mit technischen Problemen manövrierunfähig im Mittelmeer. Nachdem ein Not-Funkspruch abgesetzt wurde, orderte die Seenotleitzentrale in Rom die zivile Seenotrettungsorganisation „Sea-Eye“ an, Kurs auf die C-Star zu nehmen, um ihnen zu helfen. Da die „C-Star“ die Hilfe jedoch ablehnte, nahm die „Sea-Eye“ ihre Suche nach Schiffbrüchigen wieder auf.

Am 14. August meldete die US-amerikanische Crowdfunding-Plattform „Patreon“, dass sie das Profil der Europäischen Identität gelöscht haben, nachdem diese bereits über 100.000 Dollar an Spenden für den Einsatz der C-Star im Mittelmeer erhalten hatten. Man habe sich zu diesem Schritt entschlossen, da dieses Unternehmen wahrscheinlich zum Verlust von Menschenleben führen würde.

Kampf ums Überleben und ums Retten

Seit dem Wochenende setzen die Organisationen Ärzte ohne Grenzen, Sea-Eye sowie Save the Children ihre Rettungseinsätze aus. Im westlichen Mittelmeer habe sich die Sicherheitslage verändert. Berichten zufolge wollen libysche Behörden ihre Kontrolle auf internationale Gewässer ausweiten und verknüpften diese Ankündigung mit einer expliziten Drohung gegen die humanitären Schiffe.

Nachdem es bereits zu Zwischenfällen mit der libyschen Küstenwache gekommen ist, ziehen sich einige Rettungsorganisationen nun zurück, um ihre Besatzungen nicht in Gefahr zu bringen. „Sea-Eye“ spricht von einer „tödlichen Lücke“ im Mittelmeer, weil die Chance auf Rettung nun geringer wird. Dieses Jahr starben bereits mehr als 2400 Menschen auf der Route.

Zuvor hatte sich „Ärzte ohne Grenzen“ (ebenso die „SOS Mediteranée“, „Sea Watch“ und „Jugend Rettet“) geweigert den neuen Verhaltenskodex für zivile Seenotrettungsorganisationen zu unterzeichen, der unter anderem vorsieht, dass bewaffnete Polizisten mit an Bord der Seenotretter sein müssen und auch kleine Seenotrettungsschiffe die Geretteten direkt ans Festland bringen müssen, anstatt sie wie bisher an größere Schiffe zu übergeben. Das italienische Innenministerium konkretisierte daraufhin, dass der Kodex nicht rechtlich bindend sein und nationales und internationales Recht Vorrang habe.

Thesen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte

„Verlässlichkeit des Rechtsstaats und humanitärer Blick auf den Einzelfall“

Evangelische Anliegen in Zeiten populistischer Flüchtlingsdebatten

 

Zum diesjährigen Flüchtlingssymposium am 22. Juni 2017 in Berlin stellte Ulrich Lilie, Präsident des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung e.V. (EWDE) folgende Thesen zur aktuellen Flüchtlingsdebatte auf:

 

1. Menschen, die vor Terror, Krieg und Verfolgung aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und anderen Ländern fliehen müssen und auf der Suche nach Zuflucht und Zukunft zu uns gekommen sind, müssen im Zentrum aller Bemühungen unseres Rechtsstaates stehen. Sie haben ein verbrieftes Recht auf Schutz und Sicherheit in Deutschland, auch in Europa.

2. Wir erleben Zeiten populistischer Debatten und leider auch symbolischer Gesetzgebung – zumeist ohne Sicherheitsgewinn, aber zu Lasten des Flüchtlingsschutzes. Dem müssen wir zur Versachlichung und als Leitlinie laut vernehmbar die Verlässlichkeit des Rechtsstaats mit Blick auf den Einzelfall entgegen setzen. Wir müssen bei aller Herausforderung durch die Zahl der Schutzsuchenden unser Denken und Handeln klar danach ausrichten, dass das Recht auf Schutz der Betroffenen auch Realität werden kann.

3. Die Qualität des rechtsstaatlichen Asylverfahrens kann noch besser werden. Dieses Anliegen teilen wir mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Hier muss Gründlichkeit vor Schnelligkeit gehen.

4. Gerichtlicher Rechtsschutz ersetzt nicht Qualität und Qualitätssicherung im Asylverfahren. Er ist jedoch ein notwendiges Korrektiv im gewaltenteiligen Staat und nicht, wie manche populistisch formulieren, ein „Aushebeln schärferer Asylpraxis“. Gerichtlicher Rechtsschutz im Asylverfahren zeichnet die Verlässlichkeit des Rechtsstaates aus, am konkreten Schicksal, am Einzelfall muss sich diese Verlässlichkeit beweisen. Darum ist es unverzichtbar, den Zugang zum Rechtsschutz durch qualifizierte Asylverfahrensberatung, verlängerte Klagefristen und effektiven Zugang zu anwaltlicher Rechtsvertretung auch bei Abschiebungen zu stärken.
Angesichts der offenliegenden Mängel im Asylverfahren muss es jetzt vor allem um Qualität, und dann erst um Schnelligkeit gehen.

5. Wir brauchen eine europäische Lösung und Verantwortungsteilung beim Flüchtlingsschutz. Daran darf ein starkes Deutschland einen starken Anteil haben.

6. Zur Verlässlichkeit des Rechtsstaats gehört es auch, dass Geflüchteten, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können, ein Leben in Deutschland mit ihrer Familie ermöglicht wird. Wer aus wahltaktischen Gründen verhindert, dass Geflüchtete ihre engesten Angehörigen nachholen, trägt wissentlich zu ihrer Desintegration bei.

 

Hier können Sie den gesamten Text nachlesen.

Ursachen von Kirchenasyl beseitigen

„Am liebsten wäre es uns, kein Kirchenasyl gewähren zu müssen“

Bundesweite Kirchenasylkonferenz: Rückkehr zu Flüchtlingspolitik, die rechtsstaatlichen
Ansprüchen genügt und sich an Menschenrechten orientiert

Frankfurt am Main, 1. Juli 2017. Bei einem Treffen von Flüchtlingsinitiativen aus ganz
Deutschland haben am Wochenende in Frankfurt am Main Vertreterinnen und Vertreter
den zunehmenden Druck von Politik und Behörden auf das Kirchenasyl kritisiert. In
einer Erklärung forderten sie die Verantwortlichen auf, „zu einer besonnenen,
rechtsstaatlichen Ansprüchen genügenden und an den Menschenrechten orientierten
Flüchtlingspolitik“ zurückzukehren. In Frankfurt hatten sich rund 250 Aktive aus
evangelischen und katholischen Kirchen-gemeinden, Klöstern, Diakonie und Caritas
zu einer bundesweiten Kirchenasylkonferenz getroffen. Eingeladen zu diesem Tag hatten
die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAG), die Evangelische
Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und die Diakonie Hessen.

Kirchengemeinden unter Druck

„Wir sehen das Kirchenasyl unter großem Druck“, sagten die Initiatoren Dietlind
Jochims, Vorstandsvorsitzende der BAG, und Andreas Lipsch, Interkultureller Beauftragter
der EKHN und Leiter der Abteilung Flucht, Interkulturelle Arbeit, Migration der Diakonie
Hessen. „Zum einen gibt es den Leidensdruck durch eine immer restriktiver werdende
Flüchtlingspolitik und die stark steigende Zahl von Härtefällen. Immer öfter suchen
Menschen verzweifelt nach Schutz in Kirchenräumen. Zum anderen gerät das Kirchenasyl
selbst immer wieder unter politischen Druck, im Extremfall kommt es mittlerweile zu
Strafanzeigen oder angedrohten Räumungen.“

„Unser Hauptziel bleibt, die Ursachen von Kirchenasyl zu beseitigen.“

Die Teilnehmenden der Konferenz verabschiedeten eine gemeinsame Erklärung mit
dem Titel: „Am liebsten wäre es uns, kein Kirchenasyl gewähren zu müssen.“ Darin
werden die aktuellen Missstände in der Flüchtlingspolitik deutlich benannt, insbesondere
die drohenden Abschiebungen nach Afghanistan sowie in europäische Länder, in denen
die Grund- und Menschenrechte von Schutzsuchenden häufig verletzt werden, wie Ungarn,
Bulgarien oder Italien. Die Konferenz betont: „Unser Hauptziel bleibt, im Dialog mit der
Politik und den staatlichen Behörden die Ursachen von Kirchenasyl zu beseitigen. Wir
erwarten von den politisch Verantwortlichen, uns durch die Rückkehr zu einer besonnenen,
rechtsstaatlichen Ansprüchen genügenden und an den Menschenrechten orientierten
Flüchtlingspolitik dabei zu unterstützen.“

Die Erklärung der bundesweiten Kirchenasylkonferenz am 1.7.2017 im Wortlaut:

„Am liebsten wäre es uns, kein Kirchenasyl gewähren zu müssen.“
Die Zahl der Menschen aber, die Schutz in kirchlichen Räumen suchen, steigt. Gründe
dafür sind eine immer rigider und restriktiver werdende Asylpolitik, die hohe Zahl der
Asylanträge, eklatante Mängel in der europäischen Flüchtlingspolitik, skandalöse
Aufnahmebedingungen in den Dublin-Ländern, insbesondere in Bulgarien, Ungarn und
Italien, und vielfach fehlerhaft durchgeführte Asylverfahren. Angesichts dieser Situation
ist die aktuelle Zahl der uns bekannten Kirchenasyle in Deutschland gemessen an den
existierenden Notlagen mit 309 sehr niedrig. Längst nicht alle Anfragen münden in ein
Kirchenasyl. Die vermehrten Bitten um Kirchenasyl machen vor allem Probleme deutlich
und funktionieren als Seismograph. Das Kirchenasyl kann aber nicht die Lösung für
strukturelle Probleme in der Flüchtlingspolitik sein. Grundsätzlich gewähren wir Kirchenasyl
nur, wenn wir im Einzelfall davon ausgehen müssen, dass Menschen Gefahr für Leib und
Leben oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Grund- und Menschenrechte droht.

Zur Vermeidung solcher Gefahren fordern wir:

▪ Etliche Kirchenasyle werden Menschen aus Afghanistan gewährt. Wir fordern unverändert
die vollständige Aussetzung von Abschiebungen nach Afghanistan und erwarten, dass die
angekündigte neue Beurteilung der dortigen Sicherheitslage durch das Auswärtige Amt der
Realität angepasst wird. Wir sehen zusätzlich die dringende Notwendigkeit, die Praxis
der Kettenabschiebungen, zum Beispiel über Norwegen nach Afghanistan, in den Blick
zu nehmen. Statt des reinen Verweises auf Zuständigkeiten muss die deutsche Politik
hier ihre Verantwortung wahrnehmen.

▪ Kirchenasyle wollen nach Abschiebungen auch innerhalb der EU drohende erniedrigende
und menschenrechtswidrige Behandlungen verhindern. Es gäbe deutlich weniger Kirchenasyle,
wenn Rückführungen nicht mehr in solche europäischen Mitglied-staaten erfolgen würden, in
denen Grund- und Menschenrechte von Schutzsuchen-den häufig, zum Teil systematisch,
verletzt werden. Dies betrifft zum Beispiel Bulgari-en mit gewaltsamen Übergriffen in Lagern
und Gefängnissen, Ungarn, das generelle Inhaftierung von Flüchtlingen vorsieht, oder Italien,
wo aus Deutschland zurückgeschickte Menschen meist auf der Straße ohne Versorgung
leben müssen. Abschiebungen nach Griechenland, die bis März 2017 wegen systemischer
Mängel im Aufnahmesystem des Landes ausgesetzt waren, sollten weiterhin unterbleiben,
solange sich die Lage für Flüchtlinge in Griechenland nicht substantiell verbessert.

▪ Viele Kirchenasyle setzen sich für von Trennung bedrohte Familien ein. Wir fordern
das BAMF auf, seine Ermessensspielräume zu nutzen, um familiäre Bindungen und
humanitäre Aspekte zu berücksichtigen.

▪ Versuche der Diskreditierung und Kriminalisierung durch Vorwürfe, das Kirchenasyl
werde missbraucht, die Drohung mit Sanktionen, Einschüchterungen durch Strafverfahren
gegen Betroffene und ihre Unterstützer*innen sowie Androhung und Durchführung von

Kirchenasyl-Räumungen weisen wir zurück.

Es bleibt unser Hauptziel, im Dialog mit der Politik und den staatlichen Behörden die Ursachen von Kirchenasyl zu beseitigen. Wir erwarten von den politisch Verantwortlichen, uns durch die Rückkehr zu einer besonnenen, rechtsstaatlichen Ansprüchen genügenden und an den Menschenrechten orientierten Flüchtlingspolitik dabei zu unterstützen.

Frankfurt am Main, 1.7.2017

 

Ökum. Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.

Heilig-Kreuz-Kirche

Zossener Str. 65

10961 Berlin

www.kirchenasyl.de

Ombudsstelle nimmt Arbeit auf

Anfang Juli hat die Hamburger Ombudsstelle in der Flüchtlingsarbeit ihre Arbeit aufgenommen. Die Ombudsstelle ist eine unabhängige Beschwerdestelle. Alle, die in der Flüchtlingsarbeit tätig sind, können sich an sie wenden. Dazu gehören Geflüchtete, ehrenamtlich Aktive, Bürgerinnen und Bürger sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unterkünften.
Wir begrüßen Frau Annegrethe Stoltenberg in ihrer neuen Position als neutrale Schlichterin!

Alle Informationen rund um die Ombudsstelle finden Sie in diesem Flyer und unter hamburg.de
So erreichen Sie die Ombudsstelle:

ombudsstelle@omb.hamburg.de

Telefon: 040/ 428 63 – 41 63
Telefonische Sprechzeiten
Montag: 14 bis 16 Uhr
Mittwoch: 9 bis 11 Uhr

Große Reichenstraße 14, 22457 Hamburg
Öffnungszeiten
Dienstag: 9.30 bis 11.30 Uhr
Donnerstag: 16 bis 18 Uhr
Weitere Termine sind nach Vereinbarung möglich.

 

Neue Caritas – Heft zum Familiennachzug

In der neuen Ausgabe der „neue caritas“ – Heft 10/2017 dreht sich alles um den Schwerpunkt: Familiennachzug

Sie lesen im Schwerpunkt „Familiennachzug“ darüber, welche Hürden es gibt, wenn Flüchtlinge ihre Familien nach Deutschland nachholen wollen. Im Interview mit Julia Liebl, Asylsozialberaterin bei der Caritas Straubing, wird deutlich, dass „Integration ohne Familiennachzug nicht möglich ist“.

Weitere Artikel befassen sich mit dem Verfahren des Familiennachzugs, wobei auch die rechtliche Situation unbegleiteter Minderjähriger ausführlich dargelegt wird, sowie mit den fatalen Folgen der Aussetzung des Familiennachzugs für Bürgerkriegsflüchtlinge.

Bestellen Sie ein Probeheft unter https://www.caritas.de/ncprobeheft  .

Deportation Class

Der preisgekrönte Dokumentarfilm „Deportation Class“ (85 Min.) zeichnet erstmals das umfassende Bild einer Sammelabschiebung in Deutschland. Der Film hat gerade das Prädikat „besonders wertvoll“ erhalten und wirft nüchtern, aber umso eindringlicher die Frage auf, wie wir als Gesellschaft mit abgelehnten Asylbewerbern umgehen wollen.

Hier geht es zum Kinotrailer

Weitere Infos gibt es unter www.deportation-class-film.de 

TERMINE:

01.06.17, 20:30 Uhr, Elbe Kino (Osdorfer Landstraße 198, 22549 Hamburg, Tel. 040-8004445)
Anschließend Diskussion mit Regisseur Carsten Rau

04.06.17, 20 Uhr, ABATON (Allende-Platz 3, 20146 Hamburg, Tel.040-41320320)
Anschließend Diskussion mit Regisseur Hauke Wendler

05.06.17, 19 Uhr, 3001 Kino (Schanzenstraße 75, 20357 Hamburg, Tel.040-437679)
Anschließend Diskussion mit Regisseur Hauke Wendler

06.06.17, 19 Uhr, 3001 Kino (Schanzenstraße 75, 20357 Hamburg, Tel.040-437679)
Anschließend Diskussion mit Regisseur Hauke Wendler

07.06.17, 20:15 Uhr, ALABAMA (Jarrestraße 20, 22303 Hamburg, Tel.040-28803070)
Anschließend Diskussion mit Regisseur Carsten Rau

20.06.17, 20:15 Uhr, ALABAMA (Jarrestraße 20, 22303 Hamburg, Tel.040-28803070)
Anschließend Diskussion mit Regisseur Carsten Rau

07.07.17, Gewerbeschule Bautechnik

12.09.17, 19:00 Uhr Metropolis
Anschließend Diskussion mit Regisseur Hauke Wendler

weitere Kinotermine unter http://www.deportation-class-film.de/kinotermine.html

Diakonie fordert Schutz für afghanische Flüchtlinge

Die gemeinsame Konferenz der Diakonischen Werke und Fachverbände hat über die aktuelle Abschiebungspraxis nach Afghanistan beraten und ein Abschiebestopp gefordert.

„Abschiebungen nach Afghanistan sind unverantwortlich. Die Sicherheitslage verschlechtert sich stetig weiter, sodass es innerhalb der NATO Überlegungen gibt, das ausländische Militär wieder deutlich zu verstärken. Es gibt in Afghanistan Gebiete, wo derzeitig keine Kampfhandlungen stattfinden. Es kann aber für keine Region vorhergesagt werden, dass es nicht doch kurzfristig dazu kommen kann. Dies führt die Frühjahrsoffensive der Taliban derzeit deutlich vor Augen. Weder staatliche noch internationale Akteure sind in der Lage, sich selbst oder abgeschobene Flüchtlinge zu schützen. Argumente, dass auch in Europa mit Terroranschlägen zu rechnen sei und die Zivilgesellschaft nicht Ziel, sondern zivile Opfer nur Kollateralschäden seien, weisen wir als zynisch zurück.

Wir begrüßen, dass sich einige Bundesländer an den Abschiebungen bisher nicht beteiligen. Der drastische Rückgang freiwilliger Rückkehrer in den ersten drei Monaten des Jahres zeigt, dass es trotz verstärktem Ausreisedruck in Afghanistan keine Perspektive in Sicherheit und Würde gibt. Besonders problematisch sehen wir die staatliche Rückkehrberatung vor oder während des Asylverfahrens.

Insbesondere afghanische Flüchtlinge werden mit der Prognose, dass ihr Asylantrag aussichtslos wäre, verunsichert und zur Rückkehr gedrängt, obwohl sie Schutzbedarf haben. Auch sehen wir die Qualität der Asylentscheidungen kritisch. Durch fehlerhafte Entscheidungen werden schutzbedürftige Flüchtlinge ausreisepflichtig und abgeschoben.“