In den letzten Wochen eskaliert die Situation im Mittelmeer immer mehr – und mit ihr die Debatte um zivile Seenotrettung und europäische Solidarität.
„Solidarität und Humanität sind beliebte Begriffe bei Politiker*innen. Doch in der Realität kann davon nicht die Rede sein.“ schreibt ProAsyl.
Politik um Menschenleben
Die Ergebnisse des Treffens der Innenminister aus zwölf europäischen und afrikanischen Staaten sowie EU-Migrationskommissar Avramopoulos am 24. Juli in Tunis können nicht zynischer die Realität der fliehenden Menschen verleugnen: »Gemeinschaftliches Ziel ist die Rettung von Menschenleben dank weniger Wüsten- und Meerüberquerungen«. Anstatt legale Wege nach Europa zu schaffen und eine europäische Seenotrettung einzusetzen, sollen Todesfälle durch Festsetzen von Schutzsuchenden in Nordafrika verhindert werden – im Rahmen von Entwicklungshilfekonzepten die sich den Herausforderungen der Migration stellen. Weitere Forderungen beinhalten die Übergabe der geretteten Flüchtlinge an nordafrikanische Häfen, um ein Anlandung in Europa zu verhindern.
Militäroperationen zur Rettung ?!
Am 17. Juli beschlossen die EU-Außenminister die europäische Grenzschutz-Mission in Libyen (EUBAM) bis Ende 2018 zu verlängern, um die Sicherung der Südgrenze des Landes zu forcieren. Damit Schutzsuchende keine Möglichkeit zur Flucht bekommen, soll die Ausfuhr von Außenbordmotoren und Schlauchbooten nach Libyen eingeschränkt werden.
Ausgeblendet werden bei diesen Urteilen über Menschenleben die Dokumentationen (u.a. von der UN) über Gewaltexzesse gegen Schutzsuchende in Libyen und Warnungen vor den Menschenrechtsverletzungen.
Auch die EU-Militäroperation „Sophia“ im zentralen Meer wurde bis Ende 2018 verlängert. Die Operation geht inzwischen über das eigentliche Ziel der Schlepperbekämpfung hinaus: das zentrale Projekt ist das Training der libyschen Küstenwache. Seit Beginn der Operation ist die Todesrate bei der Flucht übers Mittelmeer gestiegen, da die Zerstörung der Boote durch „Sophia“ dazu geführt hat, dass Schutzsuchende auf noch seeuntauglichere Boote verfrachtet werden.
Tödliche Diffamierungskampagnen – an Land und zu Wasser
Während sich die Militäroperation immer mehr aus dem Seegebiet nahe Libyens zurück zieht, in dem ein Großteil der Rettungen statt findet, retteten die zivilen Seenotrettungsorganisationen über ihre Kapazitäten hinaus Menschenleben – und werden dafür massiv kritisiert und diffamiert.
Die Rufe, zivile Seenotretter würden mit Schleppern kooperieren und Geschäfte machen, kam bisher nur aus dem rechten Milieu. Inzwischen lassen sich jedoch auch der deutsche Innenminister de Maiziere, der österreichische Innen- und der Außenminister und andere auf dieses Niveau herab, haltlose Unterstellungen ohne jegliche Beweise zu äußern.
Sie stellen sich damit auf eine Linie der ultrarechten Gruppe „Identitäre Bewegung“, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Deutsche, französische und italienische Mitglieder der Organisation hatten ein eigenes Boot („C-Star“ gechartert, um die Seenotrettung im Mittelmeer zu überwachen und Flüchtlinge daran zu hindern nach Europa zu fahren. Sie werfen den zivilen Seenotrettungsorganisationen Menschenhandel und Kooperation mit libyschen Schleppern vor.
Ende Juli wurde der Kapitän der „C-Star“ und sein Stellvertreter in der Türkischen Republik Nordzypern in Gewahrsam genommen, da er vermutlich falsche Angaben über Schiff und Besatzung gemacht habe. Fünf der 20 tamilischen Besatzungsmitglieder sollen nach der Festsetzung Asyl beantragt haben – sie hatten keine Einreiseerlaubnis. Gegen den Kapitän bestehe der Verdacht des Menschenschmuggels. Zuvor war das Schiff im Suezkanal festgesetzt worden, da die richtigen Papiere zur Weiterfahrt fehlten. Im weiteren Verlauf verweigerten mehrere Häfen in Griechenland, Sizilien und Tunesien der „C-Star“ die Einfahrt.
Am 11. August trieb die „C-Star“ mit technischen Problemen manövrierunfähig im Mittelmeer. Nachdem ein Not-Funkspruch abgesetzt wurde, orderte die Seenotleitzentrale in Rom die zivile Seenotrettungsorganisation „Sea-Eye“ an, Kurs auf die C-Star zu nehmen, um ihnen zu helfen. Da die „C-Star“ die Hilfe jedoch ablehnte, nahm die „Sea-Eye“ ihre Suche nach Schiffbrüchigen wieder auf.
Am 14. August meldete die US-amerikanische Crowdfunding-Plattform „Patreon“, dass sie das Profil der Europäischen Identität gelöscht haben, nachdem diese bereits über 100.000 Dollar an Spenden für den Einsatz der C-Star im Mittelmeer erhalten hatten. Man habe sich zu diesem Schritt entschlossen, da dieses Unternehmen wahrscheinlich zum Verlust von Menschenleben führen würde.
Kampf ums Überleben und ums Retten
Seit dem Wochenende setzen die Organisationen Ärzte ohne Grenzen, Sea-Eye sowie Save the Children ihre Rettungseinsätze aus. Im westlichen Mittelmeer habe sich die Sicherheitslage verändert. Berichten zufolge wollen libysche Behörden ihre Kontrolle auf internationale Gewässer ausweiten und verknüpften diese Ankündigung mit einer expliziten Drohung gegen die humanitären Schiffe.
Nachdem es bereits zu Zwischenfällen mit der libyschen Küstenwache gekommen ist, ziehen sich einige Rettungsorganisationen nun zurück, um ihre Besatzungen nicht in Gefahr zu bringen. „Sea-Eye“ spricht von einer „tödlichen Lücke“ im Mittelmeer, weil die Chance auf Rettung nun geringer wird. Dieses Jahr starben bereits mehr als 2400 Menschen auf der Route.
Zuvor hatte sich „Ärzte ohne Grenzen“ (ebenso die „SOS Mediteranée“, „Sea Watch“ und „Jugend Rettet“) geweigert den neuen Verhaltenskodex für zivile Seenotrettungsorganisationen zu unterzeichen, der unter anderem vorsieht, dass bewaffnete Polizisten mit an Bord der Seenotretter sein müssen und auch kleine Seenotrettungsschiffe die Geretteten direkt ans Festland bringen müssen, anstatt sie wie bisher an größere Schiffe zu übergeben. Das italienische Innenministerium konkretisierte daraufhin, dass der Kodex nicht rechtlich bindend sein und nationales und internationales Recht Vorrang habe.